Vom Unterwegssein: gekommen, um zu bleiben
Unser Tag beginnt in Graz: In der Annenstraße befindet sich der Verein JUKUS , der hier auch die JUKUS Migrationssammlung aufgebaut hat. Wir kommen, um uns von Ali Özbas und Stephanie Grasser die Geschichte zu dem Arbeiterausweis eines Gastarbeiters erzählen zu lassen.
Der Mann, um den es hier geht, heißt Ibrahim Ocak. Er kam aus der Türkei auf der Suche nach Arbeit hierher nach Mitteleuropa und lebt nun schon fast 60 Jahre lang in der Steiermark. Hier wollte er aber gar nicht hin, denn sein ursprüngliches Ziel war Deutschland. Wie das Leben so spielt, landete er in Bruck an der Mur. In dieser Region hat er gelebt und gearbeitet, ehe er nach Graz zog, um in der Nähe seiner Kinder zu sein. Er hat viele Geschichten zu erzählen – leider auch darüber, dass es nicht immer leicht für ihn war. Trotzdem ist Herr Ocak gekommen, um zu bleiben.
Seit den 1950er-Jahren wurde der Mangel an Arbeitskräften in Österreich immer größer und die Unternehmen forderten, den Arbeitsmarkt für Arbeitsmigrant*innen zu öffnen.
Der Arbeiterausweis, wie das Attest offiziell hieß, wurde von der damals neu eingerichteten Österreich-Kommission in Istanbul ausgestellt. Türkische Staatsbürger*innen fürchteten diese Untersuchung sehr, war dieses Gesundheitszeugnis doch das Ticket in eine "bessere" Zukunft und deshalb heiß begehrt. Viele fielen durch, andere wiederum, wie Herr Ocak, bestanden den Test.
JUKUS steht für Jugend, Kultur und Sport. Der Verein leistet seit 20 Jahren im Bereich der Beratung und Begleitung von Migrant*innen auch im Rahmen von Stadtteilarbeit, Gesundheitsprojekten etc. wertvolle Arbeit für die Stadt Graz. Ali Özbas und sein Team setzen sich für die Förderung gesellschaftlicher Partizipation und den Austausch unterschiedlicher soziokultureller Gruppen ein.
In der JUKUS Migrationssammlung werden die Lebensgeschichten von Migrant*innen bewahrt, inventarisiert und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Materielle Zeugnisse von Biografien – zum Beispiel persönliche Fotos oder Dokumente wie unser Arbeiterausweis – sowie Audio- und Videodateien zeichnen die Geschichte der Migration in Österreich nach. "Wir wollen damit eben zeigen, dass diese Menschen auch Teil unserer Gesellschaft sind", bringt es Ali Özbas nochmals auf den Punkt.
Wer sich für das Thema Migration interessiert, dem empfehlen wir neben einem Abstecher ins Graz Museum auch einen Blick ins Volkskundemuseum am Paulustor: Dort wird seit Jahren Forschungsarbeit zum Thema Migration betrieben. Geschichte/n unter anderem von Gastarbeiter*innen werden im Bereich "Unterwegssein" als Teil der semipermanenten Ausstellung präsentiert.
Foto: UMJ/B. Schönhart
Weiter geht es an diesem Drehtag in die Obersteiermark: Das Murauer Handwerksmuseum befindet sich nur einen Katzensprung von der Altstadt entfernt. Diese liegt am Fuße des Murauer Schlosses und wird von Mur und Rantenbach umrahmt. Aber bis dorthin kommen wir heute gar nicht.
Keine zehn Minuten sind es zu Fuß zum Schillerplatz mit der schönen Pestsäule und über den Mursteg erreicht man auch bald den Bahnhof.
Es ist ein ehemaliges Kloster der Kapuziner, in dem das Museum Platz findet. In den Zellen der Ordensbrüder sind heute Ausstellungsräume und Depots des Murauer Handwerkmuseums eingerichtet. Hier wird die Kulturgeschichte der Stadt und des Bezirkes bewahrt. Kulturgüter werden aber nicht nur für die Nachwelt erhalten, sondern hier wird die Entwicklung von Handwerk und Handel begreifbar gemacht und vor allem mit den Geschichten von Menschen verbunden. Das geschieht über engagierte Vermittlungsprogramme wie Erzählcafés, Vorträge u.a., aber auch im Rahmen von Beteiligungsprojekten wie "Murau strickt". Socken aus Murau für den guten Zweck sind übrigens auch am Grazer Kaiser-Josef-Platz käuflich zu erstehen! Wer sich für Geschichte und Schwerpunkte des Museums interessiert, findet auch auf der Museumswebseite informative Einblicke.
Dank des sehr aktiven Museumsvereins steht hier die Zeit aber gar nicht still. Gerade wird ein weiterer Teil der Dauerausstellung neu gestaltet – der Handel in und rund um Murau steht dabei im Mittelpunkt. Die Bereiche Medizin und Gesundheit wurden bereits unter dem Titel "Vom Bader zum Friseur" neu aufgestellt und so finden wir eine perfekte Kulisse für den Dreh des Videos vor.
Wir sind diesmal wegen der medizinischen Geräte von Dr. Erika Walland-Zwicknagl gekommen und Uli Vonbank-Schedler erwartet uns schon. Sie wird uns von einer mutigen Frau erzählen: Kurz nach dem Abschluss ihres Medizinstudiums – Frauen waren dafür bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erst gar nicht zugelassen – kam die junge Frau nach Murau. Als Landärztin war sie für die gesamte medizinische Versorgung zuständig, Fachärzte gab es damals nicht. Sie musste anfangs die gesamte medizinische Gerätschaft auf dem Fahrrad transportieren: eine Tasche für Geburtshilfe, eine andere mit chirurgischen Geräten, Medikamenten, Sterilisationsflüssigkeiten ...
Man stelle sich vor: Inmitten der waldreichen Gegend der Obersteiermark, fernab großer Städte und noch dazu in einem traditionellen Männerberuf verstand sie es, sich zu behaupten. Trotz zahlreicher Anfeindungen und Unterstellungen eröffnete sie 1945 ihre eigene Praxis am Schillerplatz 5. Viele Bewohner*innen von Murau können sich heute noch an diese außergewöhnliche Ärztin erinnern. Auch sie ist gekommen, um zu bleiben.
Und wir müssen (leider auch schon) wieder weiter zu unserer nächsten Geschichte - wir lesen einander, wenn Sie das auch möchten!
Foto: UMJ/B. Schönhart